Kritischer Nachbericht zur Gedenkkundgebung mit anschließender Silent Demo am 19. Februar in Tübingen
Am 19. Februar versammelten sich ca. 600 Menschen auf dem Tübinger Marktplatz, um mit einer Gedenk-Kundgebung und anschließender Silent Demo, den neun Menschen zu gedenken, die vor einem Jahr durch einen rassistischen Mord in Hanau starben. Es war eindrucksvoll, wie 600 Menschen gemeinsam durch die Stadt liefen, um an die Ermordeten zu erinnern, zu trauern und zu mahnen, dass so etwas nie wieder passieren darf!
Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin.
Wir, Black Visions and Voices, die Migrantifa Tübingen, das Offene Treffen gegen Faschismus und Rassismus für Tübingen und Region und Women Defend Rojava Tübingen, haben uns Anfang diesen Jahres für die Organisation des Gedenktages zusammengetan. Nach unterschiedlichen Einschätzungen und Rückmeldungen über die Aktionsform der Silent Demo haben wir uns nochmal etwas länger Zeit genommen, diese auch innerhalb der Bündnisstruktur und in den beteiligten Gruppen zu diskutieren. Uns ist es wichtig, die gemeinsame Aktion, über einen bereits veröffentlichten kurzen Nachbericht hinaus, jetzt auch öffentlich kritisch nachzubereiten.
Schon früh in der Planung kam der Wunsch von Rassismus betroffener Menschen auf, eine Silent Demo zu organisieren, um einem stillen Trauern und Gedenken, als eine Form des migrantischen Umgangs mit dem Gedenktag, Raum zu geben. Mit der Silent Demo am 19. Februar 2021 wurde diesem Wunsch nachgegangen und ein stilles Gedenken fand statt. Darüber hinaus brachten wir mit unseren kämpferischen Reden unsere Trauer und Wut zum Ausdruck.
In einer kapitalistischen Gesellschaft wird von allen erwartet, etwas zu leisten, um Anerkennung zu erfahren. Von migrantisch gelesenen Personen wird aber immer nochmal so viel erwartet: Leistung erbringen, still sein, sich wegducken und anpassen, um akzeptiert zu werden, um nicht negativ aufzufallen. Zutiefst rassistische Zuschreibungen wie „laut“ und „aggressiv“, die nach wie vor tief in unserer Gesellschaft verankert sind, führen bei von Rassismus Betroffenen zu dem Gefühl, leise sein zu müssen, um diesen Zuschreibungen nicht zu entsprechen. Wir sehen, dass diese rassistischen Vorurteile, auch in unseren Reihen, bewusst oder unbewusst, zu Hemmungen führen. Wir wollen uns von diesen rassistischen Zuschreibungen aber nicht vereinnahmen lassen. Im Gegenteil, wir wollen uns selbstbewusst für die Aktionsform entscheiden, die wir für politisch richtig und notwendig halten. Wenn Menschen ermordet werden und wir Migrant*innen uns dagegen lautstark und kämpferisch wehren, ist das nicht aggressiv oder übergriffig, sondern folgerichtig. Jede*r, der/die anders denkt ist schlicht ein*e Rassist*in.
Schon im Vorhinein, vor Allem aber im Nachgang der Kundgebung, wurde das Konzept der Silent Demo als einzige Form des Protests am 19. Februar in unseren Gruppen und in der Bündnisstruktur kritisch diskutiert. Bei vielen von uns, gerade auch unter den von Rassismus betroffenen Menschen, konnte mit der Silent Demo bestehende Wut und das lähmende Ohnmachtsgefühl nicht in kraftvolles Empowerment gewandelt werden.
Während unserer Nachbesprechungen haben wir uns geeinigt, dass wir im Gedenken immer auch Momente schaffen müssen, in denen wir ganz bewusst nicht schweigen. Unsere Aktionsformen sind Ausdruck unserer politischen Haltung. Wir müssen sie nutzen, um zu vermitteln, dass wir nicht einfach zusehen, wenn wir angegriffen werden, wenn unsere Leute ermordet werden. Auch dann nicht, wenn es nicht jedem passt!
In vielen Reden auf der gemeinsamen Kundgebung wurde schon davon gesprochen, Wut und Trauer in einen konsequenten antirassistischen Widerstand zu wandeln. In Zukunft wollen wir nicht nur sprechen, sondern unseren Worten auch Taten folgen lassen. Nach dem Motto: wer schweigt stimmt zu werden wir neben wichtigen Momenten der Stille und Trauer auch laut sein. Um eben genau das nicht zu tun, was ein Großteil der Gesellschaft tut: zusehen oder wegschauen und schweigen.
Aber ganz egal, wie wir das Konzept der Silent Demo im Nachgang bewerten, es ist unglaublich unsolidarisch, dass sich einige Teilnehmer*innen so offensichtlich dem Wunsch der Betroffenen, während des Gedenkens still zu sein, widersetzt haben, nur um sich zu unterhalten. Es ist nicht zu viel verlangt, 10 Minuten zuzuhören, wenn von Rassismus betroffene Menschen etwas zu sagen haben, vor allem nicht, nachdem 9 Menschen ermordet wurden!
Wir haben festgestellt: Es gibt Menschen, die leise gedenken wollen, andere, die laut protestieren wollen. Wenn sich die unterschiedlichen Formen und Ebenen, gegen Rassismus und rechte Hetze aktiv zu werden, solidarisch ergänzen, können wir erfolgreich sein. Deshalb wollen wir in Zukunft sowohl ein stilles Gedenken ermöglichen als auch gemeinsam laut sein!
Am Ende ist uns noch wichtig zu sagen, dass die Wut, die Angst und das Ohnmachtsgefühl, denen von Rassismus betroffene Menschen tagtäglich ausgesetzt sind, durch lautstarke Demonstrationen und andere Aktionen zwar in Widerstand umgewandelt werden können, der tatsächlich etwas verändert. Sie werden aber erst dann endgültig verschwinden, wenn wir dieses kapitalistische System überwinden, das Rassismus und rechte Hetze befeuert und sogar von ihnen profitiert. Also lasst uns an dieser Überwindung weiterarbeiten – für eine antirassistische und klassenlose Gesellschaft!
Für eine migrantische Selbstorganisierung!
Kein Vergeben – kein Vergesssen!
Erinnern heißt kämpfen!
Migrantifa Tübingen und das Offene Treffen gegen Faschismus und Rassismus Tübingen und die Region, März 2021